Eine Stunde abtauchen in eine Welt ohne visuelle Informationen

Wetzlar | Einer solchen irritierenden Erfahrung setzten sich Teilnehmende der Reha-Maßnahme QuiT im vergangenen Jahr freiwillig aus. Im Rahmen dieser beruflichen Rehamaßnahme sollten die Teilnehmenden reflektieren, dass es viele verschiedene Formen von „Einschränkung“ oder „Behinderung“ gibt und ebenso viele Wege, damit umzugehen. So kann das Fehlen eines Sinnes durch Schärfung anderer Sinne, durch gekonnte Handhabung von Hilfsmitteln und vertrauensvolle Kooperation ausgeglichen werden, so dass sich mancher blinde Mensch weniger beeinträchtigt fühlt als so mancher sehende. Schon allein sich dieser Selbsterfahrung einmal auzusetzen erfordert Mut. Trotzdem waren alle Teilnehmende sofort bereit für diese Exkursionsplanung. Die Gruppe gab jedem ausreichend Kraft und Halt, so dass alle bereit waren für eine Stunde Dunkelheit.

So machten wir uns an einem sonnigen Tag mit dem Zug auf nach Frankfurt. Der erste Anlaufpunkt war die Kleinmarkthalle in der Stadtmitte mit ihrer Fülle an visuellen Eindrücken: Obst, Kräuter, Blumen und Gewürze in allen Farben und den verschiedensten Strukturen, Oberflächen und Größen! Hier wurde geschaut, geprüft und für ein geplantes gemeinsames Kochevent eingekauft. Gestärkt mit einem Kaffee ging es dann weiter zum Museum „Dialog im Dunkeln“.

Nach einer kurzen Eingewöhnungszeit im Halbdunkeln und einer Einführung in die Benutzung eines Blindenstocks, befanden sich die Teilnehmenden dann in absoluter Dunkelheit, ohne jede Möglichkeit einer visuellen Orientierung. Rechts, links, vorne, hinten, oben, unten – nichts konnte gesehen werden, alles konnte nur durch den eigenen Körper und die Schwerkraft erspürt, mit den Händen und dem Stock ertastet und mit den Ohren akustisch lokalisiert werden. Angeleitet durch eine in der Dunkelheit erfahrene Guide führte der Weg durch Räume, deren Zuschnitt und Größe höchstens erahnt werden konnten. Für die nächsten 60 Minuten war nun jede*r mehr oder weniger hilflos und versuchte eigene Strategien zu entwickeln, sich ohne visuelle Informationen in der Dunkelheit zurechtzufinden und mit der eigenen Unsicherheit und Angst umzugehen, sich weh zu tun oder einen anderen anzurempeln. Schnell fasste die Gruppe Vertrauen zu ihrer Guide, die sich gut auskannte, gut orientiert war und sich, obwohl der gleichen Blindheit ausgesetzt, sicher in der Dunkelheit bewegte. Unter ihrer Anleitung gelang es allen, eine Straße zu überqueren, sich in einer Wohnung oder über einen Markt zu bewegen, Dinge zu ertasten oder Gerüche bewusst wahrzunehmen und zu identifizieren.

Zuvor noch von der optischen Fülle der Kleinmarkthalle beeindruckt, hatte sich hier die Wahrnehmung dramatisch verändert. Allein angewiesen auf den Tastsinn, das Gehör und den Geruch wurde der Duft von Ananas und Äpfeln freudig erkannt und intensiver erlebt.

Bei einer anschließenden Gesprächsrunde in der dunklen Bar konnten zahlreiche Fragen zum alltäglichen Leben mit Blindheit gestellt werden. Selbst durch gesundheitliche Beschwerden eingeschränkt, wurden von den Teilnehmenden Vergleiche angestellt, Erfahrungen ausgetauscht und neue Eindrücke gewonnen. Selbst auf die tags zuvor in einer Bewerbungssimulation aufgetauchte Frage „Wie erklären Sie einem Blinden die Farbe rot?“ gab es von der Museumsangestellten eine ausführliche Antwort. Auch nach Beendigung der Veranstaltung blieb unsere Guide für uns „im Dunkeln“. Wir hatten uns nur durch ihre freundliche Stimme und ihr Verhalten ein Bild von ihr machen können.

Ein Ausflug, der zum Nachdenken anregte, zum neuen Einschätzen der eigenen Situation und bei allen das Resümee hinterließ: Wie schön, dass wir nach einer Stunde totaler Dunkelheit wieder das Sonnenlicht erblicken durften.

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